Der Puls einer uralten, aber quicklebendigen Kulturmetropole und das blauschimmernde Urlaubsglück in der Ägäis. Wer beides will, fährt nach Griechenland. Und kombiniert einen Besuch der Hauptstadt Athen mit einem Abstecher auf die Kykladeninsel Kéa, wo die schicken Athener ihre Ferienhäuser haben
Athen ist eine der meistbesuchten Städte Europas, mit jährlich vielen Millionen Gästen aus aller Welt. In ihrem Herzen aber – und abseits der ausgetretenen Pfade – ist Griechenlands Hauptstadt noch immer durch und durch: griechisch. Tagsüber auf der Akropolis fällt das nicht auf. Dann stehen Touristinnen und Touristen auf dem berühmten Burgberg und staunen über das gleißende Weiß der Säulen, den Panoramablick über das Häusermeer und die 2.500 Jahre Geschichte, die hier oben zu spüren sind. Auch Agora und Dionysostheater sind als großartige Reminiszenzen an die Antike fest in Besucherhand, das Akropolismuseum ebenfalls und der quirlige Stadtteil Plaka mit seinen Souvenirläden, Sandalen-Boutiquen und Schmuckhändlern sowieso.
Man muss allerdings nie lange laufen, um in einem anderen Athen zu landen. In Monastiraki zum Beispiel, das für seinen Flohmarkt geliebt wird. Oder in Anafiotika, wo Athen ein wenig wie ein Ort auf den Kykladen aussieht, mit weiß getünchten Häusern und kleinen, liebevoll gepflegten Gärten. Ganz anders Kolonaki – hier stehen die prächtigsten Häuser (und die meisten Botschaften), hier gibt es die vornehmsten Cafés und die teuersten Boutiquen, hier trifft sich das gut situierte Athen auf einen Frappé oder ein Glas Wein. Das durch und durch sympathische Viertel Thissio mit seinen Bars und Kneipen am Fuße des Filipappou-Hügels liegt davon nur wenige Hundert Meter und zugleich eine Welt entfernt. Thissio ist ein Viertel, in dem die Menschen auf dem Weg ins Büro noch schnell ein Lotterielos am Kiosk kaufen. Ein Viertel, in dem sich Nachbarn auf der Straße unterhalten. In dem man von der Straße in ein Lokal gewunken wird, um mitzutanzen – und nicht bloß staunend von außen durchs Fenster zu schauen.
Thissio ist ein Viertel, in dem sich die Menschen auf dem Weg zur Arbeit noch schnell ein Lotterielos am Kiosk kaufen, sich Nachbarn auf der Strasse unterhalten
Nur an Sommer-Wochenenden wirken diese Athener Stadtviertel manchmal geradezu verlassen. Denn am frühen Freitagnachmittag setzt sich halb Athen in Richtung Piräus in Bewegung, um von dort mit Fähren und Booten hinaus auf die Inseln zu fahren, wo es Badestrände und immer eine frische Brise gibt. Wer es sich leisten kann, verlässt die heiße Hauptstadt regelmäßig für ein paar Tage; manche Galerien und Clubs ziehen gleich für den kompletten Sommer nach Rhodos oder Mykonos. Ägina ist ebenfalls sehr beliebt. Poros auch. Und wer schon einmal auf Hydra Urlaub gemacht, der kennt die weiße Linie aus Booten und Yachten am Meereshorizont, wenn die Wochenendgäste freitagnachmittags in Flottenstärke anrücken.
Nur von Kéa haben die meisten Nicht-Athener wahrscheinlich noch nichts gehört. Die kleine Insel gehört zu den Kykladen. Vom Hafen Lavrio in der Nähe des Athener Airports benötigt die Fähre nicht länger als eine Stunde. Dass sich wohlhabende Athener hier ihre Sommerhäuser sehr dezent in die Falten der Hügel gebaut haben, würde gar nicht weiter auffallen, wenn im Hafen nicht etliche Yachten vor Anker lägen. Kéa selbst sieht aus, wie man sich eine griechische Insel vorstellt: Gebirge, steile Küsten, etliche schöne Buchten. Dazu ein paar Grotten und kleine Haine mit knorrigen Eichen, die so alt zu sein scheinen, dass sie möglicherweise schon Odysseus haben vorbeisegeln sehen. Orte gibt es auch. Ioulida im Inselinneren hat gut 600 Einwohner, Korissia an der Küste knapp über 700. Auf der kompletten Insel leben nicht mehr als 2.400 Menschen.
Kéa sieht genauso aus, wie man sich eine griechische Insel vorstellt: Gebirge, steile Küsten, etliche schöne Buchten
Klingt das nicht nach dem perfekten Ort, um nach dem Athener Kulturprogramm ein paar wunderbar entspannte Urlaubstage zu verbringen? Aber ja: Die Strände auf Kéa sind wunderschön, und das türkisblaue Wasser ist so klar, dass man beim Schnorcheln Tintenfische beobachten kann, wie sie wenige Meter entfernt mit schnellen Stößen ihrer Fangarme vorbeischwimmen. Über das Land zieht sich ein kleines Netzwerk an Wanderwegen; viele führen zu Buchten, die man auch mit dem Boot erreichen kann – aber nicht mit dem Auto. Kéas Sonnenuntergänge sind fast so dramatisch schön wie die drüben auf dem Festland am legendären Kap Sounion. Auf Kéa hat man sie allerdings für sich allein, auf irgendeinem Felsen, an irgendeinem Stück Steilküste. Wer anschließend noch etwas erleben möchte, muss runter zum Hafen in Vourkari. Das ist der einzige Ort auf der Insel, an dem eine Art Nachtleben existiert. Ioulida oben in den Bergen wiederum wirkt, als seien seine Häuser vor langer Zeit als weiße Lava aus dem Inselinneren geflossen und zwischen den Gebirgsfalten liegen geblieben. Der Ort sieht aus wie ein Werbeplakat der Griechischen Fremdenverkehrszentrale: gefegte Innenhöfe, gewienerte Tavernentische, und die Katzen tragen Flohhalsbänder. Früher hätte man hier aufgeregt seinen Vorrat an Diafilmen kontrolliert. Heute knipst man, bis eine Meldung auf dem Handy-Display darauf hinweist, dass der Speicherplatz zu Ende geht.
Kéas berühmteste Einwohner sind ein Künstler namens Delapitsas, der sich mit den schönsten Murales verewigt hat, und ein steinerner Löwe am Ortsrand von Ioulida. Ein ganzes Zeitalter lang liegt er schon dort. Angeblich haben die Götter ihn einst vom Olymp nach Kéa geschickt, um die Nymphen von der Insel zu vertreiben: Zeus und Kollegen waren die eigenwilligen Halbgöttinnen zu aufsässig geworden. Die Insel sollte der Löwe anschließend zerstören, aber wer kann sich schon des Zaubers der Nymphen erwehren? Der Löwe konnte es nicht. Er ließ sie und Kéa in Ruhe. Und lächelt heute freundlich, wenn er mit auf ein Selfie soll.
In Ioulida ist eine Bar nach ihm benannt, vor der manchmal ein paar Alte aus dem Ort sitzen, zwischen sich ein Akkordeon. Es gibt Ouzo und Zigaretten. Die Männer singen, oder besser: Sie erzählen. Denn in der griechischen Sprache wird ein Lied erzählt. Und so erzählen die Alten vom kühlen Meltémi, dem Nordwind, der über die Berge von Kéa zieht. Von den Eichen, deren Äste im Wind knarzen. Vom Sommer, wenn die Tage lang und die Nächte mild sind. Die Gäste der Bar schweigen andächtig. Manche singen leise mit. Andere haben die Augen geschlossen. Es sieht aus, als schliefen sie. Dabei träumen sie nur. Stefan Nink