Wenn die Polarbären im Herbst auf die zugefrorene Hudson Bay in Nordkanada ziehen, kommen sie durch das Städtchen Churchill. Nirgendwo lassen sich die gewaltigen Raubtiere besser beobachten als hier
Churchill ist die einzige Stadt weit und Breit. Und davon liegt unsere Lodge noch einmal 60 Kilometer entfernt“
Wir fliegen mit der Cessna an, denn unsere Lodge liegt mitten in der Tundra Manitobas, und in diesem Teil Nordkanadas gibt es keine Straßen. Es gibt auch nur eine einzige Stadt im Umkreis von etlichen Hundert Kilometern: Churchill, ein ehemaliger Handelsposten der Hudson Bay Company und selbst ernannte „Polar Bear Capital“ der Welt. Auf 900 Einwohner kommen im Winter ein paar Hundert Eisbären. Churchill liegt auf einem Korridor, über den die Eisbären seit Ewigkeiten im Herbst auf die zugefrorene Hudson Bay ziehen und im Frühsommer wieder zurück. Unsere Lodge ist von Churchill noch einmal 60 Kilometer entfernt.
Zur Begrüßung bekommen wir Kirschkuchen, Kaffee und ein Update: Weil die Hudson Bay noch nicht zugefroren ist und die Bären noch nicht zur Robbenjagd aufs Eis können, stromern sie in der Nähe des Hotels herum. Kein Grund zur Sorge, weiß der Lodge-Manager: Die Huskys draußen würden sich melden, sobald sich ein Bär nähere. Und sie seien nicht zu überhören.
Nachmittags, nach gründlicher Einweisung, starten wir in Begleitung von zwei Guides und zwei Wachleuten – alle vier tragen Gewehre – zur „walking safari“ durch die Umgebung der Lodge. Wir gehen in einer Formation, die uns schwer angreifbar erscheinen lässt. Und wir haben Tröten dabei, mit denen wir die Bären notfalls auf Abstand halten können. Doch noch sehen wir kein Tier. Hier im Norden Manitobas ist die Landschaft immens weit und leer. Sie erweckt den Eindruck von Ewigkeit. Vielleicht, weil wir wissen, dass außer uns keine Menschenseele in dieser Landschaft existiert, haben wir das Gefühl, Teil zu sein von dieser Weite.
Die Eisbären sehen wir erst, als die Guides uns darauf aufmerksam machen. Es sind vier. Vielleicht 150 Meter von uns entfernt stehen sie zwischen den Büschen. Drei Tiere scheinen sich zu langweilen; sie laufen hin und her, halten witternd die Nasen in die Luft und legen sich dann hin. Der vierte Bär blickt bewegungslos in Richtung Hudson Bay. Vielleicht hat er etwas entdeckt. Vielleicht will er mit seinem Blick das Wasser in Eis verwandeln.
Später, am Kaminfeuer in der Lodge, hat sich das Herzklopfen gelegt, nicht aber unser Enthusiasmus. Wir zeigen uns gegenseitig unsere Fotos und bearbeiten unsere Guides: Morgen wollen wir unbedingt noch einmal los! Nach dem Abendessen gehen wir ins Bett. Der Lodge-Manager weckt uns nach Mitternacht. Weil draußen der Himmel in Flammen steht. Polarlichter in einer eiskalten kanadischen Winternacht sind ein Anblick, den man nie wieder vergisst. Es ist, als schütte jemand immer neue Farbe über der Nacht aus: Der Himmel wird grün und gelb und blau und wieder grün, die Nacht leuchtet in allen Regenbogenfarben. Es fühlt sich an, als würde man der Schöpfung bei einer heimlichen Zugabe zusehen.
Polarlichter in einer eiskalten kanadischen Winternacht sind ein Anblick, den man nie wieder vergisst
Über Stunden bleiben wir dort draußen. Die Huskys sitzen im Schnee und heulen den Himmel an. Als die Kälte von unten in die Beine kriecht, gehen wir zur Lodge zurück. Beim Eintreten schimmert etwas Helles am Türrahmen. Es lässt sich leicht vom Holz lösen.
Ich habe das Büschel Eisbärhaare immer noch. Sie sind nicht weiß, sondern beinahe durchsichtig. Manchmal, wenn ich sie in die Hand nehme und im richtigen Winkel gegen das Licht halte, schimmern sie in allen Regenbogenfarben. Wie der Himmel über Manitoba, in einer eiskalten kanadischen Nacht.
Stefan Nink